
Ein Projekt der Leuphana Universität Lüneburg in Zusammenarbeit mit dem Museum Lüneburg

Ein Projekt der Leuphana Universität Lüneburg in Zusammenarbeit mit dem Museum Lüneburg
DER WERT DER ARBEIT - EINE ANDERE PERSPEKTIVE
Wir quälen uns am Montagmorgen aus dem Bett, freuen uns auf den Feierabend, das Wochenende, den lang ersehnten Urlaub. Kaum vorstellbar, dass es auch genau anders herum sein kann.
Für die Mitarbeiter der Lebenshilfe in Lüneburg erfüllt Arbeit eine ganz andere Position im Leben. Dort bedeutet Arbeit Lebensinhalt, Stabilität und Lebensqualität. „Das beste was mir je passieren konnte.“, sagt mir einer der Werkstattangestellten, an meinem Tag zu Besuch. Worte, die ich sonst in meinem normalen Umfeld nur sehr selten höre. Wie kann es sein das Arbeit für uns einfach nur ein gesellschaftlicher Zwang ist, etwas was wir tun damit wir Geld zum Leben haben, ein Leben, was für uns am liebsten außerhalb der Arbeit stattfindet. Damit möchte ich gar nicht sagen, dass nicht auch Leute ihren Job sehr lieben, gerne hingehen und auch nach möglichem Renteneintritt noch weiter machen, aber das ist schon eher eine Seltenheit. Um so beeindruckter war ich nach meinem Tag bei der Lebenshilfe, welchen Wert Arbeit fürs Leben auch haben kann. Werte, die ich so noch nie wahrgenommen habe, Umstände, von denen wir lernen können.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe versteht sich als Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit verschiedenen Behinderungen und ihre Familien. Sie wurde 1958 in Deutschland auf Bundesebene gegründet. In der Bundesvereinigung Lebenshilfe sind 16 Landesverbände und über 500 Ort- und Kreisvereinigungen organisiert.
Die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg ist eine von ihnen. Der Verein wurde 1964 von Eltern, Betreuern und Freunden von Menschen mit geistiger Behinderung gegründet und wurde 1974 zu einer gemeinnützigen GmbH. Im Laufe der Jahre hat eine große Entwicklung stattgefunden und ist sich die Lebenshilfe ein modernes und vielseitiges Dienstleistungsunternehmen mit mobiler Frühförderung, Kindergärten und Krippen, Wohnen, Freizeitangeboten, umfangreichen ambulanten Diensten, Arbeit, Beschäftigung und beruflicher Bildung. Heute werden dort ca. 1.350 Menschen mit Behinderung betreut.
„Es ist normal, verschieden zu sein.“
Die Lebenshilfe arbeitet täglich daran, dass sich dieser simple Satz im alltäglichen Geschehen verankert. Sie möchte eine Gesellschaft schaffen, in der Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen willkommen sind. Die Ziele der Lebenshilfe sind deshalb umfassende Teilhabe und Inklusion. Sie sind davon überzeugt, dass jeder Mensch einzigartig und wertvoll ist, dass alle Menschen gleichwertig sind und das Recht auf Selbstbestimmung, Individualität und Achtung ihrer Persönlichkeit haben. Deswegen ermöglichen die Angebote der Lebenshilfe die Teilhabe in allen Lebensbereichen und fördern die Lebensqualität der Menschen mit Behinderung. Diese werden begleitet, damit sie allgemeine Angebote nutzen und an der Gesellschaft teilhaben können.
Und auch Arbeiten ist Teilhabe. Somit bietet die Lebenshilfe Menschen mit Behinderung auch die Möglichkeit, sich mit ihren Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen. Das kann sowohl in einer Werkstatt sein oder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Der Standort in Lüneburg am Vrestorfer Weg umfasst ein Empfangsgebäude, ein Bürohaus für die Verwaltung, eine Großküche, eine Schlosserei, die Mechatronik und Montage, eine Gärtnerei und die Kfz-Werkstatt, in der ich meinen Tag verbringen durfte. Zudem gibt es noch eine Tagesförderstätte, in der Menschen mit multiplen Behinderungen, welche keiner Arbeit nachgehen können, im Alltag begleitet und gepflegt werden, es ist eine Art Tagesklinik.
In meinem alltäglichen Leben habe ich keine Kontaktpunkte zu Menschen mit Behinderung, auch in einer solchen Einrichtung, einer Werkstatt, war ich noch nie.
Ehrlich gesagt hatte ich keine richtige Vorstellung davon, was mich an meinem Tag erwarten würde.
Jeder von uns hat schon mal eine Kfz-Werkstatt betreten. Im Hintergrund läuft ein Radio, überall Autos, Werkzeuge und Mitarbeiter, die ein bisschen dreckig in ihren Blaumännern durch die Gegend huschen. Es herrscht ein rauer, aber freundlicher Umgangston.
Als ich durch die Tür zur Kfz-Werkstatt der Lebenshilfe kam erwartete ich ein anderes Umfeld, eine andere Stimmung ja sogar andere Leute - Doch alles war genauso, wie in jeder anderen Werkstatt auch!


„Viele denke, die Kfz-Werkstatt gehört gar nicht dazu.“
Die Arbeit in der Kfz-Werkstatt ist eine sehr komplexe Arbeit, deswegen sind dort die fittesten Teilnehmer beschäftigt. Aktuell arbeiten neben dem Meister und 2 Gesellen ca. 10 Werkstattbeschäftigte im Büro und in der Kfz-Werkstatt. Sie kümmern sich um den Fuhrpark der Lebenshilfe, der ungefähr 100 Fahrzeuge umfasst, die restlichen Aufträge sind durch Privatkunden, welche ausschließlich über Mundpropaganda auf die Werkstatt treffen, denn Werbung gibt es keine, dafür reichen die Mittel nicht. Die Mitarbeiter erledigen jegliche Aufgaben, welche am Fahrzeug anfallen, von Reifen- und Ölwechsel bis hin zu neuen Bremsen und elektrotechnischen Reparaturen. Auch Reinigung und Pflege der Wagen wird dort durchgeführt. Die Werkstattbeschäftigten haben vorher keine Ausbildung in diesem Bereich. Alle anfallenden Aufgaben werden vom Meister oder den Gesellen vergeben und dann in Zweierteams bearbeitet, so kann man sich gut helfen und Wissen austauschen, ohne dass es unübersichtlich wird. Am Ende wird von den Gesellen noch einmal die geleistete Arbeit überprüft. Dies garantiert eine fehlerfreie Arbeit, da die Werkstattbeschäftigten aber gut angelernt werden und sich für ihre Tätigkeit Zeit nehmen können, ist die Fehlerquote allgemein sehr niedrig. Gemeinsam werden sich neue Ziele gesetzt und somit besteht die Möglichkeit weitere Dinge im Bereich der Kfz zu erlernen und daraufhin auch eigenständig durchzuführen.
Wenn ein neuer Mitarbeiter zur Lebenshilfe kommt, durchläuft er verschiedene Berufsbildungsgruppen, das dient dazu herauszufinden, welche Beschäftigung ihm Spaß macht und für welche er qualifiziert ist. Im Laufe der Arbeitszeit bei der Lebenshilfe kann man jederzeit den Bereich wechseln, wenn die Fähigkeiten sich verändern und eine Stelle frei ist. Bei der Kfz-Werkstatt ist die Beständigkeit der Mitarbeiter sehr langanhaltend. Die meisten sind bereits ca. 18 Jahre im Betrieb, der Älteste sogar schon 35 Jahre. Auch die Anfälligkeit für Fehlzeiten und Instabilität ist dort geringer als in anderen Abteilungen, der Wert, welcher hier im Fokus steht und intensiv vermittelt wird, ist Normalität. „Wir sind alle gleich.“, sagt der Geselle zu mir und das leben sie auch. Zwei Beschäftigte haben hier einen Führerschein, was eine sehr große Besonderheit ist, da viel Ausdauer und Belastung für das Erlangen eines Führerscheins auf die Menschen zukommt. Die meisten schaffen das nicht und haben zudem nicht das nötige Geld.
Der normale Arbeitstag umfasst acht Stunden mit einer Frühstücks-, Mittags- und Nachmittagspause. Diese regelmäßigen Pausen entschleunigen die Arbeit und geben genug Raum, um zu entspannen. Stressig ist nur der Montag, da kommt der TÜV und die sonst sehr angenehme Arbeitsatmosphäre kann dann auch mal ein bisschen angespannter werden.
Wenn jemand nach einer längeren Krankheit o.ä. zurück zur Arbeit kommt, gibt es Maßnahmen zur Wiedereingliederung. Diese beinhalten intensive Betreuung und eine sich nach und nach steigernde Stundenzahl. Während meiner Zeit bei der Lebenshilfe wurde mir dauerhaft der Eindruck vermittelt, dass es ganz egal ist, ob jemand vier oder acht Stunden am Tag arbeitet und mit welcher Intensität gearbeitet werden kann. Zudem gibt es begleitende Maßnahmen für alle Werkstattbeschäftigten, die während der Arbeitszeit stattfinden. Die Lebenshilfe bietet ein breites Angebot an Sportarten, kreativer Betätigung und Weiterbildungsmöglichkeiten. Wenn jemand nicht gut lesen und schreiben kann, kann er an entsprechenden Kursen teilnehmen. Diese Weiterbildung läuft dann für ein halbes Jahr und kann danach wieder neu beantragt werden. Ob das Angebot in Anspruch genommen wird, ist jedem selbst überlassen.
„Wenn’s bei uns stressig ist, ist es in der freien Wirtschaft ruhig.“
Eins der Ziele der Lebenshilfe ist es, die Beschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten und ihnen im Optimalfall einen sicheren Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft zu verschaffen. Es kann dabei über Praktika bis zu einer Festeinstellung gehen. Viele versuchen diesen Schritt aber gar nicht erst, denn ihnen ist bewusst, dass dann der ganze Rahmen wegfällt, die Unterstützung, die Pausen. Zudem ist das Belastungslevel in der freien Wirtschaft ein deutlich höheres. Auch wenn ein solcher Schritt zu den Zielen gehört, wird niemand dazu gedrängt, alle dürfen sich gerne ausprobieren, aber wenn sie bleiben oder wiederkommen, ist das völlig in Ordnung. Dazu kommt die Problematik, dass viele Unternehmen lieber eine Strafzahlungen in Kauf nehmen, als jemanden mit Einschränkungen, der langsamer arbeitet, einzustellen.
Viele der Gruppenleiter kommen nicht über den Weg der Sozialpädagogischen Ausbildung zur Lebenshilfe. Als Fachkraft mit einer Berufsausbildung kann man einfach so einsteigen. Um Gruppenleiter zu werden, muss dann allerdings noch eine sozialpädagogische Zusatzausbildung gemacht werden. Die tatsächliche Arbeit im Bereich der Kfz ist im Endeffekt nur ein Beiwerk, im Wesentlichen ist die Aufgabe eines Gruppeleiters, die Leute zu beschäftigen, anzulernen und auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Trotzdem beschränkt sich die Betreuung nur auf die reine Arbeit. Für alle anderen Lebensbereich haben die Beschäftigten andere Betreuer.
Gruppenleiter haben aber noch weitere Aufgaben. In manchen Bereichen müssen Medikamente gegeben werden, dafür erhält jeder Mitarbeiter eine Medikamentenschulung. Wenn ein Werkstattbeschäftigter mit einem dem Gruppenleiter bisher nicht bekannten Behinderungsbild in die Abteilung kommt, wird dieser im Rahmen einer Spezialschulung weitergebildet um immer gezielt auf die einzelnen Verhaltensmuster und -veränderungen reagieren zu können. Damit ganz gezielt auf die einzelnen Beschäftigten reagiert werden kann und damit ein Gruppenleiter, der Vertretung in einem anderen Bereich macht, sich schnell einen Überblick verschaffen kann, gibt es kurze Beschreibungen zu dem normalen Verhalten der Beschäftigten. Anhand einer Leiter wird in Stufen eingeteilt, wie man sich verhält, wenn man beispielsweise entspannt ist. Es gibt Leute, die normalerweise viel reden und wenn sie dann ganz still werden, ist das schon die „erste Stufe zur Explosion“ und natürlich auch andersherum. Durch die unterschiedlichen Verhaltensweisen kommt es auch ab und zu mal zu Problemen unter den Werkstattbeschäftigten, besonders beim Mittagessen, wenn viele Gruppen zusammenkommen, entstehen Konflikte, diese werden dann in Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst geschlichtet.
Eine weitere Aufgabe ist die Bewertung der Leistung der Mitarbeiter, anhand welcher dann der Lohn bestimmt wird. Es gibt verschiedene Lohngruppen, in welche die Beschäftigten eingestuft werden können. Zudem können Leistungspunkte vergeben werden. Durch eine Lohnkommission wird ermittelt, welche Fähigkeiten vorhanden sind, ob eine Verbesserung stattgefunden hat und ob die vereinbarten Ziele erreicht worden sind. Großer Wert wird dabei auf die Vergleichbarkeit gelegt, dass auch jeder der einer ähnlichen Tätigkeit in einem anderen Bereich nachgeht, dasselbe verdient.
Die Leistungspunkte werden beispielsweise für Kategorien wie Arbeitsbereitschaft vergeben. So kann es den Fall geben, dass einer den ganzen Tag die Arbeit verweigert und er mit einer geringen Punktzahl bewertet wird, das Arbeitsverhalten aber trotzdem vollkommen in Ordnung ist, da niemand gezwungen werden kann. Toleranz und Akzeptanz sind zwei der wichtigsten Werte für die Arbeit der Gruppenleiter.
„Mehr als man denkt.“
In meinen Gesprächen hat sich gezeigt, wie die Arbeit in einem solchen Umfeld einen Menschen verändert und auch über mich würde ich sagen, dass allein dieser eine Tag und die allgemeine Auseinandersetzung mit dem Thema bei mir eine Veränderung bewirkt haben.
Der eine Geselle hat über seinen Weg zur Lebenshilfe erzählt und über die Veränderung, die er erlebt hat. Heute ist dieses Umfeld für ihn ganz normal.
Aber wie so viele von uns hatte er in seinem Alltag vorher keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen, das ganze Konzept der Lebenshilfe war ihm nicht präsent und somit auch nicht vorstellbar, was dort passiert. Heute weiß er, dass die Lebenshilfe ihrem Motto „Mehr als man denkt“ in jeglicher Hinsicht definitiv gerecht wird. Er sagt: „Früher hat man auch mal geguckt, wenn jemand anders war, aber heute sehe ich das nicht mehr. Es ist zur Normalität geworden.“
Diese Problematik sieht er auch für die Allgemeinheit: es ist sehr schwer ein öffentliches Publikum zu erreichen, um diese Normalität in die Gesellschaft zu bringen und das Bewusstsein dafür zu erhöhen. Für die Werkstattbeschäftigten schafft die Lebenshilfe durch ihre Arbeitsplätze bereits einen großen Anteil an Normalität für die Beschäftigten selbst. Arbeiten zu gehen, bedeutet in unserer Gesellschaft, dazu zu gehören. Niemand möchte sich so fühlen, als wäre er kein Bestandteil der Gesellschaft, als könne er keinen Beitrag dazu leisten. Routine und Stabilität sind sehr wichtige Komponenten in jedermanns Lebens. Diese Struktur ist gerade für Menschen mit Behinderung häufig noch wichtiger. Ohne einen festen Tagesablauf sind sie verloren, wenn sie nicht arbeiten sind, wissen sie schnell nichts mit sich anzufangen. So können drei Wochen Sommerpause schwerwiegende Folgen haben, Veränderungen in der gewohnten Struktur führen schnell zu Veränderungen im Krankheitsbild. Auch Stress kann zu Überforderung führen und dann dazu, dass die Krankheit ausbricht oder sich verschlechtert. Daher bietet der geschützte Rahmen der Lebenshilfe den Menschen genau das Arbeitsumfeld, welches sie benötigen, deswegen fühlen sich alle dort sehr wohl und gehen gerne zur Arbeit. „Das hier ist ihre Familie.“, ist ein Satz, den ich viel höre. Auf positive Rückmeldungen und Wertschätzung wird auch besonderen Wert gelegt. Häufig wissen die Beschäftigten selber auch wenn sie etwas gut gemacht haben, bekommen es aber auch immer noch gesagt. Es bedeutet Anerkennung dafür, dass man etwas kann, ein Gefühl, welches im. Alltag nicht selbstverständlich regelmäßig zustande kommt.
Egal, auf welchem Level die Arbeit stattfindet, Arbeit ist wichtig, selbst bei einem Job, den von uns keiner machen wollen würde, kann es für andere Lebensinhalt sein. Vom Konzept der Lebenshilfe können wir uns in der allgemeinen Wirtschaft noch viel abgucken, um auch dort die Eingliederung von Menschen mit Behinderung möglich zu machen. Ein angenehmes und inkludierendes Arbeitsumfeld zu schaffen und mit mehr Offenheit und Akzeptanz an das Thema zu geben. Und mir gefällt auch das Konzept, das jeder so viel leistet wie er kann, über den Zeitraum, dem es ihm möglich ist. Auch für uns sollte die Arbeit den Wert haben Lebensinhalt zu sein und gleichzeitig einen Rahmen bieten, in dem jeder zu dem was er leisten kann, eine Chance auf Arbeit hat und die Möglichkeit hat auch z.B. Arbeit und Familie zu vereinbaren.
Und der wichtigste Punkt ist wohl, sich immer auf Augenhöhe und mit einer gewissen Normalität zu begegnen, unabhängig davon wer einem gegenübersteht, denn selbst wenn wir verschieden sind, sich wir doch alle gleich.
Falls dies nun dein Interesse geweckt hat, du dieses Umfeld und die Werte selber näher kennenlernen möchtest oder einfach nur einen guten Zweck unterstützen willst, erfahre hier mehr darüber, wie du dich engagieren kannst.